PRESS 2004

Juli 2004, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Der erste Kuß, das erste Mal

Dieter Mammel in der Galerie Hübner

Manchmal braucht es wenig, einen Film in Gang zu setzen. Ein Kleinkind im Stühlchen, das Baby auf dem Arm der Mutter, ein skeptischer, leicht schüchterner Blick in die Kamera. Ein Schaukelpferd vielleicht oder ein paar Jungen in kurzen Hosen, die auf einen Baum klettern.

Einfache, im Grund wenig aussagekräftige Situationen, wie sie die Kindheit einer ganzen Generation bebildern dürften, und doch genügt mitunter ein einziges solcher eigentlich austauschbarer Fotos aus dem Familienalbum, um den Duft, die heitere Fröhlichkeit oder die maßlose Traurigkeit jenes fernen Augenblicks ins Gedächtnis zu rufen. Schon in seinen "Family works" hat der Maler und Zeichner Dieter Mammel zu Bildern gefunden, die über die eigene Kindheit hinaus die Erinnerung selbst zum Thema haben.

Nicht nur, daß die Arbeiten dem Betrachter immer wieder Fäden an die Hand zu geben scheinen, anhand deren sich immer neue Geschichten spinnen lassen; Bilder mögen auftauchen, an die man Jahre, gar Jahrzehnte nicht gedacht hat und deren Wahrheitsgehalt sich kaum mehr überprüfen läßt. Zweifel, Gewißheit und trotzige Behauptung - all das findet sich in Dieter Mammels Malerei.

Der neue Zyklus des 1965 in Reutlingen geborenen Künstlers, der derzeit in der Frankfurter Galerie Hübner (Grüneburgweg 71) zu sehen ist, erscheint zunächst als die chronologische Fortführung der "Family works": der erste Kuß, das erste Mal, der lange Abschied in Rosarot und dunklem Aubergine. Doch die unter dem Titel "mammel's magenta lovers" zusammengefaßten Arbeiten erweisen sich mehr denn je als letztlich zum Scheitern verurteilter Versuch, der Erinnerung Gültigkeit und Dauer zu verleihen.

Mammel fokussiert, wählt mitunter einen Ausschnitt und geht noch einmal dichter heran wie ein Fotograf, doch je näher der Künstler seinem Motiv und seinen Protagonisten zu kommen trachtet, desto mehr scheint sich alles zu verflüchtigen. In Aquarell und Tusche auf roher, ungrundierter Leinwand ausgeführt, lösen sich die Konturen in der Unschärfe auf, zerfließt die Farbe, breitet sich flekkig, über die Weißräume aus oder verdichtet sich zu undurchdringlichen Farbflächen.

Und je länger man schaut, desto weniger eindeutig wirkt die Situation. Der erste Kuß, das erste Mal. Das Ende von allem und vielleicht ein erster Mord. Wer weiß das schon, nach all den Jahren? Doch während die eben noch vage vor Augen stehende Erinnerung weiter verblaßt, eigene und fremde Geschichten sich zu neuen Erzählungen verdichten und gleichwohl kein klares Bild sich einstellen will, bleibt allein die glühende Intensität des Augenblicks. Jene letzte Umarmung, jenen Kuß hat es wirklich gegeben.

Christoph Schütte, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Die Schau läuft bis zum 8. August. Geöffnet Dienstag bis Freitag von 13 bis 18.30 Uhr, Samstag von 10 bis 14 Uhr.

April 2004, Reutlinger Generalanzeiger

Erinnerung, doppelbödig

VON BERND STORZ

REUTLINGEN. Zwei Kinder auf dem väterlichen Schoß, die um den Täufling versammelte Verwandtschaft, und immer wieder Szenen kindlichen Spiels: Mit dem Roller, auf der Schaukel, im Schnee. Das Familienalbum als Ausgangsmaterial großformatiger Bilderserien: So viel verraten die "Family works" vorwiegend Aquarell und Tuschearbeiten auf Leinwand - auf den ersten Blick.

Dieter Mammel, 1965 in Reutlingen geboren und hier aufgewachsen, hat schon früh mit Ausstellungen in renommierten Galerien auf seine künstlerischen aufmerksam gemacht. Er studierte an den Akademien in Stuttgart und Berlin, wo er seit 1987 lebt.

Die Szenen der zwischen 2000 und 2002, entstandenen Werkreihen, zu denen für die Reutlinger Ausstellung auch einige Holzdrucke und Druckstöcke gegeben wurden, wirken meist vital, offenbaren psychische und körperliche Nähe familiärer Beziehungen, zeigen ungebrochene kindliche Entdecker- und Bewegungsfreuden. Eine Besucherin hinterlässt im Gästebuch den Satz: "Wie schön, Familie zu haben!"


Hat sich die Ideologie der heilen (Familien-) Welt der zeitgenössischen Kunst bemächtigt? Die Widersprüche, die der privaten Chronik der Gefühle eine flüchtige und jeder Verklärung abholden Welt verfremdender gestalterischer Zugriffe entgegensetzen, sprechen eine eigene Sprache. Schon die Technik des Aquarells legt die Prozesshaftigkeit der Erscheinungen der Erinnerung offen und die gezielte Verundeutlichung von Figuren und Dingen lässt an den fragmentarischen Charakter von Erinnerung selbst denken. Dazu kommt die auf Grün, Rot, oder Braungrau basierende Verschiedenfarbigkeit der einzelnen Werkreihen und die farbliche Behandlung der Flächen, die mit ihren Schlieren, Verdunkelungen und Brüchen offenbart, dass diese Bilder der Welt der Vergangenheit entliehen sind. Bei aller Lebendigkeit des Ausdrucks der Körper und Gesichter, die aus der kunstvollen Verschränkung anspielungsreicher linearer Setzungen und flächiger Aussparungen erwächst, verweisen die Gestaltungsmittel entschieden auf die Rolle des Subjektiven als Element des Erinnerns schlechthin.

Während Mammel so die privaten Daten seiner Kindheit für exemplarische künstlerische Deutungsversuche nutzt, öffnet er seine Interpretationen zugleich für die Deutungen des Betrachters. So etwa zeigt "Spaziergang l" (2000) einen nachdenklich auf den Boden blickenden Jungen an der Hand der übermächtig wirkenden, dunklen Gestalt eines Mannes (des Vaters?). In dieser Konstellation kann man, das Fehlen von Kommunikation sehen, das Kind in seiner Vereinsamung - aber gleichwohl die Anbindung des Jungen an eine Person die ihm Schutz gewährt und Raum lässt für seine eigenen Gedanken. Hier wird nicht Nähe in Frage gestellt, sondern unsere Wahrnehmung derselben relativiert.

Schön, dass Dieter Mammel mit diesen Bildern an die subjektive Doppelbödigkeit von "Erinnerung" erinnert: An den nur schwer zu entziffernden Mix aus Faktischem und emotionalem Gedächtnis. Und daran, dass die Bilder der Kindheit uns lebenslang einholen - auf welche Weise auch immer.

Februar 2004, Reutlinger Generalanzeiger

Dieter Mammel
[GEA-FOTO: Jürgen Meyer]

"Family works" von Dieter Mammel

REUTLINGEN. Die »Wertschätzung von außen« bringe Dieter Mammels Ausstellung »family works« mit, betonte Museumsleiterin Dr. Beate Thurow bei der gut besuchten Eröffnungsveranstaltung am Freitagabend. Die Gemälde des gebürtigen Reutlingers, die seine eigene Kindheit sowie Kindheit ganz allgemein aufarbeiten, wurden zuerst im Kunstmuseum Bonn gezeigt. Der dortige stellvertretende Direktor, Dr. Christoph Schreier, hielt denn auch die Eröffnungsrede, die sinnfällig und pointiert Mammels »Mix aus Erinnertem und Imaginiertem« erläuterte. Eine »archetypische Gültigkeit« schrieb er den teilweise überlebensgroßen Familien- und Kinderszenen zu, die gleichzeitig fröhlich wie auch bedrohlich wirken können. Leonid Kontorowski spielte am Flügel Ravel-Walzer. Die Ausstellung ist bis 2. Mai in der Städtischen Galerie zu sehen.

Reutlinger Generalanzeiger,
Montag, 16. Februar 2004

Februar 2004, Südwest Presse, Ulm

Vom Weltall zurück in die eigene Vergangenheit

"Family works" von Dieter Mammel: Auf der Suche nach einer früheren Zeit - Bilder, Szenen, Interieurs
Nach Bonn und Dortmund ist die hiesige Städtische Galerie die dritte Station: Dieter Mammel zeigt In der Städtischen Galerie seinen Zyklus "Family Works". Drei Jahre hat sich der 1965 In Reutlingen geborene und aufgewachsene Künstler mit dieser Werkgruppe beschäftigt.

Christoph Schreier, Vize-Direktor des Kunstmuseums Bonn, hat die Ausstellung mit Mammel zusammen konzipiert. Überwiegend figürliche Motive sind zu sehen - skizzenhaft und doch nahezu fotorealistisch wiedergegebene Kinderbilder, Familienszenen, Interieurs: schnell, gezielt und sehr gekonnt mit Aquarell und Tusche auf die nicht gundierte Leinwand geworfen. Manches wirkt wie aus der Sicht eines Lichtbildners - so die Auswahl der Ausschnitte, das Posieren der inszenierten Personen.

Doch im Gegensatz zur Fotografie die nur einen kurzen Augenblick festhält und einfriert, steht in den Arbeiten Mammels eher die gestalterische Kraft des Zeichen- und Malprozesses im Vordergrund. Dazu gehören auch das effektvoll eingesetzte Zerfließen und die Kristallisation der trocknenden Aquarellfarbe auf dem Leinwandgewebe.

Fehlstellen und Flecken, Unschärfen und dunkle Flächen evozieren Erinnerungen, Träume, Ängste. Sie erinnern an die Flüchtigkeit des Augenblicks, an die ständigen Veränderungen und die Vergänglichkeit der Lebenswelt. Man fragt sich, welches Schlüssel-Erlebnis - wie der an die Kindheit erinnernde Duft eines Kuchenstückes bei Marcel Proust - Mammel zu diesem arbeitsintensiven Werkkomplex hingeführt hat. Drei Jahre dauerte die Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte, die ureigene Suche nach der verlorengegangenen Zeit. Letztendlich führte ihn eine Serie technischer Zeichnungen von Spinnmaschinen seines Vaters zum Eintauchen in die eigene Geschichtechte. Diese Serie war bereits 1997 in der Ausstellung "Space becomes a whirlpool" bei der Hans-Thoma-Gesellschaft zu sehen. Sie bildet den Dreh- und Angelpunkt zu einem früheren Werkkomplex, in dem es um Navigation in Raum und Zeit ging.

Geborgenheit und Leere
Sie führt Mammel vom Makrokosmos des Weltalls in den Mikrokosmos der eigenen Vergangenheit. Dieser Mikrokosmos reicht bis in die in den riesenhaften Holz-Druckstöcken enthaltenen Körperzellen. Zellblasen beherbergen Reutlinger Wahrzeichen wie Marienkirche und Maximilians-Brunnen.
Viele Bilder vermitteln Geborgenheit wie sie ein Kind in der Familie erlebt, in welcher es sich aber auch bedroht und verunsichert fühlen kann. Besonders deutlich erscheint diese Ambivalenz in dem Bild "Flieger" von 2002: Ein Kleinkind wird in einem spielerischen und eigentlich eher liebevollen Gestus mit den Füßen eines Erwachsenen in der Schwebe gehalten. Durch die Drehung des Motivs in die Vertikale erscheint das Kind zugleich als bedrohlich ins Leere hinausgestoßen, verloren im Nichts.
Einmal in emotionalen, warmen Rottönen, ein zweites Mal in eher kühl distanzierten Grüntönen, verbindet diese Arbeit zwei Werkgruppen.

Am Anfang der Serie, ab 2000, stehen schwarz, Dunkelbraun und Rot für die frühe Zeit der Kindheit, ab 2002 prägen Grüntöne die Arbeiten, in denen Mammel sich mit Jugend, Ablösung und Aufbruch schildert. Symbolisch hierfür steht ein Knabe vor einer gefährlich riesenhaften Schlange.

Mit dem letzten Bild "Krumme Lanke" von 2003, in dem die beiden Neffen - zu Besuch in Berlin - aus dem Blickwinkel des Betrachters von unten in eine Baumkrone hinaufsteigen, schließt sich der Kreis dieser mit großer Intensität, mit den Mitteln eines Künstlers ausgelebten Familien-Arbeit.

Südwest Presse, Ulm
16.02.2004