PRESS 2003

Juni 2003,
Dr. Christoph Schreier, Stellv. Direktor KUNSTMUSEUM BONN
zur Ausstellung "family works"

Porträt einer Familie. Dieter Mammels Gemälde als private Chronik der Gefühle

In jedem von uns schlummert ein Fundus bildgewordener Erinnerungen, dessen Bestand immun zu sein scheint gegen die alltägliche, medial vermittelte Flut von Bildern, die sich in ihren Reizen zu übertrumpfen suchen, aber doch nur wechselseitig auslöschen. Beherrschen diese Bilder unser Alltagsleben, so tauchen die Schatten der Erinnerung nur in bestimmten, privilegierten Momenten an die Oberfläche des Bewusstseins. Vom Verstand kaum kontrollierbar erlangen sie dann aber eine Wirkkraft, über die der französische Romancier Marcel Proust ein ganzes Buch geschrieben hat: 'Die Suche nach der verlorenen Zeit'. In einer der frühen, aber zentralen Passagen des Romans beschreibt Proust dabei, wie der Genuss einer 'Madeleine', eines zum Tee gereichten Gebäcks, die Erinnerungen an weit zurückliegende Kinder- und Jugendtage freisetzt.
'...Sobald ich den Geschmack jener Madeleine wiedererkannt hatte, die meine Tante mir, in Lindenblütentee eingetaucht, zu verabfolgen pflegte...trat das graue Haus mit seiner Straßenfront...wie ein Stück Theaterdekoration zu dem kleinen Pavillon an der Gegenseite hinzu...und mit dem Hause die Stadt, der Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte, die Straßen, die ich von morgens bis abends und bei jeder Witterung durchmaß, die Wege, die wir gingen, wenn schönes Wetter war. Und wie in den Spielen, bei denen die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschale kleine, zunächst ganz unscheinbare Papierstückchen werfen, die, sobald sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, sich winden, Farben annehmen und deutliche Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, zusammenhängenden und erkennbaren Figuren werden, ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens...die Leutchen aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser...ganz Combray und seine Umgebung...auf aus meiner Tasse Tee...'(1)
In bildmächtiger Sprache - und einer fast programmatischen Thematisierung der eigenen Poetik - konkretisiert Proust an dieser Stelle die enge Beziehung von sinnlichem Eindruck und Erinnerung, die die eigentlichen Quelle seines Buches darstellt. Schreiben bedeutet für Proust die Beschwörung des vergangenen Lebens, wobei Kontemplation und Sensibilität als die wichtigsten Mittel angesehen werden müssen, um das Bildarchiv unseres Gedächtnisses zu erschließen.
Auch wenn Prousts Werk in diesem Sinne als sicher einzigartig gelten muss, dann sind doch die Parallelen zu Mammels künstlerischen Vorgehen kaum von der Hand zu weisen. Seit dem Jahr 2000 begibt sich auch Mammel auf die Suche nach der - eigenen - verlorenen Zeit, wendet sich sein Blick, wie er einmal formulierte, nach innen, wurde Mnemosyne, die griechische Göttin der Erinnerung und des Gedächtnisses, zur neuen Muse seiner Kunst. Statt des Entwurfs neuer, selbstreferentieller Bildwelten, die das Werk des Zeichners und Graphikers bislang geprägt hatten, widmete er sich nun einer Archäologie innerer Bilder, als deren Resultat knapp zweihundert großformatige Tusch- und Aquarellarbeiten gelten müssen, von denen nun eine Auswahl in Bonn gezeigt wird. Sie sind Frucht einer Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, deren Ansätze in den Übermalungen der mittleren und späten neunziger Jahre zu finden sind. Mammel hatte seinerzeit klischeehaft-nostalgische Bildvorlagen, zum Teil aber auch eigenhändig gemalte, romantisierende Bilder benutzt, um deren Aussage durch Übermalungen zu modifizieren, gelegentlich gar zu konterkarieren.
Eines der eindrücklichsten Beispiele aus dieser Werkreihe ist sicherlich 'Der Schulweg' (2), eine ursprünglich idyllische Szenerie, die durch die dunkle Übermalung des Horizonts einen durchaus bedrohlichen Charakter erhalten hat. So scheint der einsame Weg - der Mammels Schulweg war - förmlich im Nichts zu enden, eine Umdeutung des Motivs, die bis auf die symbolische Bedeutungsebene des Bildes durchschlägt. Denn der noch ungefestigte Lebensweg - so könnte man interpretieren - verliert sich im Dunkel einer Zukunft, die das Glücksversprechen der Jugend nicht mehr einlösen kann. Kurz, das Bild mutiert, durch Mammels Eingriff, zu einer existentiellen Metapher, die nun nicht durch symbolhafte Zeichen, wie sie etwa in der Malerei der Romantik anzutreffen sind, sondern durch das Weglassen bzw. Auslöschen von ganzen Partien des Gemäldes evoziert wird. Durch Reduktion des Bildinventars bzw. durch dessen ausschnitthafte Umdeutung wendet Mammel die Aussage seines Vor-Bildes ins Abgründige, wird Malerei zum Kryptogramm einer privaten Vision, die die stereotyp-optimistische Weltsicht einer post-romantischen Malerei im wortwörtlichen Sinne überlagert und damit entzaubert.

Entsprechend tragen alle Arbeiten dieser Werkreihe die Signatur einer individuellen Deutungshoheit, die die gefühlvollen Inszenierungen einer heilen Bild-Welt an den Rand drängen und durch den selektiven Blick des Subjekts ersetzen. Von hier aus ist es dann auch nur ein Schritt zu den 'Family works', die die ikonischen Codifizierungen eines harmonischen Familienlebens zwar einerseits zitieren, andererseits aber malerisch in Frage stellen. Die ersten Werke dieser Serie entstehen, wie bereits gesagt, im Jahr 2000 und tragen nun explizit autobiographische Züge. Sie beschreiben Dieter Mammels Kinder- und Jugendzeit in der schwäbischen Provinz, zeigen Familie und Verwandte und dokumentieren in der Summe eine Identitätssuche bzw. Identitätsstiftung deren Wurzeln in der Erinnerung liegen (3). Dabei bleibt offen, wie authentisch die Quellen oder wie konstruiert die erzählten Geschichten sind. In jedem Fall fußen Mammels Arbeiten nicht auf der simplen Umsetzung fotografischer Vorlagen, auch wenn das Posieren der Personen auf den Pseudo-Dokumentarismus von Familienfotos zu verweisen scheint. Ihre Grundlage ist vielmehr ein Mix aus Erinnertem und Imaginiertem, aus im Gedächtnis gespeicherten Fakten und emotional gefärbten Reminiszenzen (4), aus Faktizität und Konstruktion, den der Berliner Philosoph Wilhelm Schmid mit Blick auf Mammels 'Family works' folgendermaßen resümiert:
'...So...(formt)...das Individuum sein Leben zu einer gebildeten Geschichte..., in der alles seinen Platz hat, zugewiesen von einem reflektierten Selbst, in dessen existentieller Kunsttätigkeit dies zum Ausdruck kommt. Der Maler berichtet von dem Kind, das sich selbst erst im Laufe des Lebens als Kind wieder entdeckt; er malt die Geschichte dieses Kindes, die eigene Geschichte, in Bildern, bildet die Geschichte auf diese Weise erst, erzählt sie sich immer aufs Neue, deutet und interpretiert all das, was geschehen ist, und gibt den Dingen Zusammenhang, das heißt einen Sinn, den sie nicht von vornherein schon haben, sondern der nun neu gefunden und erfunden wird. Denn das vergangene Leben ist nicht etwa eines, das schon abgeschlossen wäre, vielmehr gewinnt es seine Konturen erst in der erzählten und gemalten Interpretation...'(5)
Biographie definiert sich solchermaßen als von personalen und motivationalen Faktoren abhängiges Konstrukt, als Prozess, in dem Erinnerung stattfindet und vor unseren Augen Gestalt annimmt. Damit bestätigt Mammel indirekt und unwillentlich die These des englischen Philosophen John Locke, der schon im 17. Jahrhundert die Ansicht vertrat, dass das Gedächtnis in der Lage sei, die in ihm abgespeicherten Wahrnehmungen und sinnlichen Erfahrungen wiederzubeleben, gleichsam bildhaft zu aktualisieren. Dadurch erscheint längst Vergangenes als gegenwärtig und wirkmächtig, ohne dass uns dies im Einzelnen stets so willkommen sein mag. Doch gilt der von Mammel gern zitierte Satz aus dem Film "Magnolia", dass wir wohl mit unserer Geschichte abgeschlossen haben mögen, dass dies aber noch lange nicht heißt, dass diese auch mit uns ihren Frieden geschlossen hätte. Und so bleibt sie lebendig, die Geschichte, die uns in Mammels Arbeiten wie ein "tableau vivant" entgegentritt.
Wie in einem großen Familienalbum vergegenwärtigen die Bilder seine Familie, und dies in Posen und szenischen Situationen, die, über das Dokumentarische der Abbildung hinaus, die Wünsche und Sehnsüchte, aber auch die Abhängigkeiten und Ängste der Familienmitglieder offen legen. Interessant ist in diesem Zusammenhang insbesondere das Verhältnis der Generationen, das in der überwiegenden Mehrzahl der Gemälde durch klare Hierarchien gekennzeichnet ist. Ein eher harmloses Beispiel zeigt Mutter Mammel in Sommerkleid und mit Picknicktasche und mit ihrem Sohn Dieter an der Hand (6). Ein wenig unsicher blickt er auf den Boden, wohl wissend, dass er nur Staffage einer Inszenierung mit klar verteilten Rollen ist. Neben dem väterlichen Regisseur, der wohl hinter der Kamera steht, und der dominanten Mutter, gibt es nämlich noch einen Protagonisten, der sich machtvoll ins Bild schiebt und die kleine Gruppe förmlich rahmt: der neue (?) Volkswagen. Er symbolisiert bescheidenen Wohlstand, Mobilität, Reisen in eine Zukunft, die, ähnlich den Utopien jener Jahre, längst Geschichte geworden ist. (7). Dies mag dem Bild eine sentimentale Note verleihen, doch beschert die Erinnerung, wie andere Gemälde deutlich machen, nicht nur nostalgische Gefühle. Sie kann auch eine Büchse der Pandora sein, die lang Verdrängtes freisetzt und zum Vorschein bringt. Nicht wenige Arbeiten aus dem Kontext der 'Family works' vergegenwärtigen daher eine düstere, irgendwie bedrohliche Stimmung, wofür das Bild des jungen Dieter an der Hand seines Vaters einen Beleg darstellen kann. (8)
Mächtig, ja, die Bildgrenzen sprengend, steht die dunkle Gestalt des Mannes dem Jungen hier zur Seite, ohne ihm allerdings wirklich 'zur Seite zu stehen'. Denn jenseits der Bindung, die sich im festhaltenden Griff des Mannes äußert, findet kein Austausch und keine Kommunikation zwischen den Personen statt. Folgerichtig werden auf der gestalterischen Ebene daher auch eher die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten betont. Die dunkle, hieratische, aber allein physische Präsenz des Mannes kontrastiert mit der linkischen Unsicherheit des Kindes, das sich dem Druck der Beobachtung dadurch entzieht, dass es, mehr verlegen als selbstvergessen, mit den auf den Boden verteilten Kastanien spielt. Wer kennt solche Situationen nicht? Überhaupt bleiben Mammels 'Family works' nie im (Auto-)Biographischen befangen, da fast alle seiner Familienporträts eine symbolische, teilweise sogar archetypische Gültigkeit erlangen. Die fesselnde Hand des Vaters und die attraktiven Beine der Tante (9), repräsentieren mehr als dokumentarische Fakten, sie stehen für den Mikrokosmos der Familie, in dem Macht und Erotik als wichtige Faktoren des Beziehungsgeflechtes wirksam sind. Ein wenig mag man sich in der Betrachtung dieser Bilder deshalb an frühe Gemälde von Gerhard Richter, an die Figurenkonstellation der 'Familie am Meer' (10) etwa, erinnert fühlen. Bei aller Komik, die in der physiognomischen Angleichung der Gesichter begründet liegt, führt nämlich auch Richters Arbeit eine Art Soziogramm der Familie, mit dem Fixpunkt des alles dominierenden Vaters, vor Augen. Mammel ist hiervon gar nicht so weit entfernt und doch erlangen seine Gemälde eine andere Form von Präsenz. Während die 'Familie am Meer' für Richter vor allem den motivischen Vorwand für eine ironisch gefärbte Auseinandersetzung mit familiären Selbstinszenierungen - und für eine komplexe Medienreflexion - darstellen, geht es Mammel, trotz aller distanzierenden und abstrahierenden Momente, über die noch zu sprechen sein wird, um die Vergegenwärtigung seiner Familie, die in dieser Form nicht mehr existiert. Alle Gestaltungsmittel sind hierauf funktional bezogen, Teil einer gänzlich unironischen Erinnerungsarbeit, die das Vergangene zu einer erscheinungshaften Präsenz zitiert. Vielleicht ist es diese Vergegenwärtigung, die Heidegger in seinem philosophischen Hauptwerk 'Sein und Zeit' mit dem Begriff der 'Wiederholung' zu fassen suchte, wenn er schreibt:'...Das wiederholende Selbstüberliefern einer gewesenen Möglichkeit erschließt jedoch das dagewesene Dasein nicht, um es abermals zu verwirklichen. Die Wiederholung des Möglichen ist weder eine Wiederbegründung des 'Vergangenen' noch ein Zurückbinden der 'Gegenwart' an das 'Überholte'. Die Wiederholung lässt sich, einem entschlossenen Sichentwerfen entspringend, nicht von 'Vergangenem' überreden, um es als das vormals Wirkliche nur wiederkehren zu lassen. Die Wiederholung erwidert vielmehr die Möglichkeit der dagewesenen Existenz. Die Erwiderung der Möglichkeit im Entschluß ist aber zugleich als augenblickliche der Widerruf dessen, was im Heute sich als 'Vergangenheit' auswirkt. Die Wiederholung überlässt sich weder dem Vergangenen, noch zielt sie auf einen Fortschritt. Beides ist der eigentlichen Existenz im Augenblick gleichgültig...'(11)

Auf diese Weise sichert die souveräne 'Wiederholung' dem Wiederholten eine Präsenz, die auch Mammel für seine Familienbilder anstrebt. Im dem Maße wie ihm dies gelingt, werden wir, die Betrachter, zu Augenzeugen einer Epiphanie des nicht mehr Vergangenen, einer Epiphanie freilich, die immer im Erscheinungshaften gebunden bleibt. Zu endgültiger Gegenwart will nämlich auch Mammel diese Gespenster nicht zitieren, dafür sorgt schon die manifeste Selbstreferenz der Gestaltungsmittel, die spezifische Nass-in-Nass Technik, in der die Bilder ausgeführt sind. Denn die fließenden Tusch- und Aquarellfarben verweigern sich jeder Festigkeit und Endgültigkeit, die beispielsweise die Ölmalerei garantieren könnte. (12) Würde sich diese für ein Zustandsbeschreibung eignen, so hebt Mammels Malerei die Entstehung und das Werden, das prozesshafte Hervorbringen und Erscheinen der Erinnerungsbilder hervor. Während diese durchweg in emotionalisierenden Rottönen gehalten sind, verlassen die später entstandenen grünen Arbeiten den privaten Bereich. Ihr Thema ist ein allgemeineres, da sie verstärkt den kulturell-gesellschaftlichen Diskurs über das Sujet Familie reflektieren. Hier spielen für Mammel, den begeisterten Cineasten, vor allem filmische Vorbilder eine wichtige Rolle und daher tauchen in dieser Serie auch ambivalente Vaterfiguren, wie etwa Marlon Brando in der Rolle des "Paten" auf. Sein Gesicht erlangt in diesem Bild eine fast ikonische Präsenz, die für Dieter Mammels Gemälde im Ganzen betrachtet eher außergewöhnlich ist. In aller Regel bewahren seine Arbeiten nämlich ihre Erscheinungshaftigkeit, die Werke ihre offene Bildsprache.

Entsprechend sind wir Zeugen einer Bilderproduktion, die sich vom Amorphen zum Gestalthaften, von den physikalischen Gesetzen des Farbflusses bis zur Konkretion der Abbildlichkeit entwickelt. Dabei bleiben die Motive ephemer, die Formen Schatten, die auf den lichten Grund der Leinwand projeziert scheinen (13). Kaum hat sich diese Abbildlichkeit freilich anschaulich manifestiert, so scheint sie sich allerdings auch wieder aufzulösen, weshalb man wohl von einem reversiblen Prozess sprechen muss. In jedem Fall bleibt das abstrakte Formpotential in Mammels Arbeiten aktiv und dies sowohl in den 'Family works', als auch in den sie begleitenden Zeichnungen, Gouachen und Collagen.
Sie illustrieren im Rahmen der Ausstellung den Gährzustand eines Schaffensprozesses, der in den letzten Jahren, dies gilt es zu betonen, nur selten auf eine rein formale Selbstreferenz zielt. Zu dominant ist wohl das Leitthema der 'Family works', das in zumindest zwei weiteren Werkreihen paraphrasiert wird. Die eine bezieht sich auf die Konstruktionszeichnungen von Mammels Vater, deren Rationalität und Akuratesse als Folie für die bildnerische Phantasie des Sohnes dient. Ähnlich den Übermalungen der mittleren und späten neunziger Jahre, überlagern die Visionen auch in diesen Fällen schon existente Bilder-Welten oder, vielleicht richtiger, Welt-Bilder (14). Künstlerisches Schaffen, so wird jedenfalls deutlich, ist kein Arbeiten aus dem Nichts, es steht vielmehr in Konkurrenz zu anderen Deutungen von Wirklichkeit, gegen die man sich auch als Künstler erst einmal behaupten muss. Um so bedeutsamer scheint es da, die eigene Identität zu erkunden, den eigenen Wünschen und Vorstellungen Raum zu verschaffen. Um beides geht es bei Mammel: um die Definition eines 'Selbst', die sowohl sein 'woher' als auch sein 'wohin' bestimmen will.
Motor für das 'wohin' sind dabei nicht zuletzt die erotischen Triebkräfte, die sich in Mammels 'Näh-Zeichnungen' dokumentieren. Sie beruhen auf erotischen Skizzen, deren Linien von Mammels Großmutter mit Nähnadel und Zwirn in Fadenzeichnungen übersetzt wurden. Auf diese Weise wurde die alte Dame zur Erfüllungsgehilfin der sexuellen Phantasmen ihres Enkels, womit sich insgeheim auch die familiären Hierarchien geändert haben dürften. Spiegeln nicht wenige der oben beschriebenen 'Family works' die besitzergreifende Macht der Eltern- und Großelterngeneration, so unterwirft der Künstler die Familie nun den eigenen Wünschen, ohne jedoch den Mikrokosmos der Familie zu gefährden oder gar zu sprengen. Was sich ändert sind, wie gesagt, einzig und allein die Hierarchien. Entsprechend sind denn auch die Näh-Zeichnungen Produkte des sozialen Biotops Familie, eben 'Family works', nur solche einer etwas andere Art.

  1. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, In Swanns Welt. Im Schatten junger Mädchenblüte, Frankfurt am Main 1967, S. 67
  2. Dieter Mammel, Der Schulweg, 1998, Öl auf Leinwand, 52 x 74 cm, Privatsammlung Frankfurt am Main
  3. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf Sigmund Freud, der hervorhob, dass unser Charakter auf Erinnerungsspuren erster Kindheitseindrücke beruht. Daher bedeutet Therapie für ihn auch zuallererst die Erinnerung zu aktivieren.
  4. Es war der französische Philosoph Henri Bergson, der zwischen den im Gedächtnis abgespeicherten Erinnerungen - dem 'mémoire' - und den sich plötzlich einstellenden Erinnerungen - dem 'souvenir' - unterschied. Beide Formen von Erinnerung spielen bei der Entstehung der 'Family works' eine wichtige Rolle.
  5. Wilhelm Schmid, Rekonstruktion der Romantik. Wie Dieter Mammel das Leben zum Kunstwerk macht, maschienenschriftliches Manuskript, o.J., S. 3
  6. Dieter Mammel, Käfer, 2001, Tusche, Aquarell auf Leinwand, 80 x 100 cm, Im Besitz des Künstlers
  7. Ergänzend sei hier das Bild "Reise nach Italien" zitiert, das die Sehnsucht nach der Ferne auf ein Kind überträgt. Man sieht den jungen Dieter, wie er mit dem Spielzeugauto die Landkarte abfährt. Kühn die Entfernungen verkürzend, träumt er kindlich den Traum der Erwachsenen
  8. Dieter Mammel, Spaziergang mit dem Vater, 2000, Tusche auf Leinwand, 100 x 80 cm, Im Besitz des Künstlers
  9. Dieter Mammel, Nach oben, 2000, Tusche auf Leinwand, 60 x 35 cm, Im Besitz des Künstlers
  10. Gerhard Richter, Familie am Meer, 1964, Öl auf Leinwand, 150 x 200 cm, Kunstmuseum Bonn. Dauerleihgabe Sammlung Grothe
  11. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1926, zitiert nach: KUNSTFORUM international, Bd. 123, 1993, S. 195
  12. In gewissen Sinne ist Mammel - wie die Betrachtung seiner Bilder zeigt - ein monochromer Maler. In einem Manuskript formuliert er daher folgerichtig:'..Ich habe keine Lust, gleichzeitig viele Farben einzusetzen. Tonale Malerei ist eingeschränkt und eher unrealistisch. Damit geht ein Bild weiter. Es wird abstrakt. Und erinnert an den Ursprung unseres Sehens von Helldunkelwerten, zumindest an Zeichnungen'
  13. Interessant ist in diesem Zusammenhang, welch aktive Rolle der Fläche zugewiesen wird. Oft erlangt sie nämlich selber eine inhaltliche Aussagedimension, dann, wenn man ihr Weiß mit dem Licht der Sonne oder der blendendenWirkungskraft eines Schneefeldes assoziiert.
  14. In diesem Sinne muss man die "Spinnerzeichnungen" wohl auch als einen Befreiungsakt sehen. Der Künstler löst sich hier von der Weltsicht seines Vaters, die sich ja noch in den "family works", und dort insbesondere in der roten Werkreihe spiegelt. Ist nicht gerade in ihr die Macht der Elterngeneration über das visuell fundierte Gedächtnis der Kinder spürbar?

Dr. Christoph Schreier,
Stellv. Direktor KUNSTMUSEUM BONN
zur Ausstellung "family works"
Juni 2003

Dieter Ronte, Direktor Kunstmuseum Bonn
Vorwort zum Katalog " family works"

Dieter Ronte
Direktor Kunstmuseum Bonn
Vorwort Katalog " family works"

Im "Künstlerheim Luise", einem Berliner Hotel in zentraler Lage, steht ein Bett von ungewöhnlichen Dimensionen: knapp 3 mal 2 Meter mißt nämlich diese Bettstatt und wenn man sich dort zur Ruhe begibt, so mag man sich an Kindertage erinnert fühlen, in denen die Betten noch die Weite von Landschaften besaßen und die Plumeaus gewaltigen Bergen ähnelten. Träumt man dann auch noch von der lang zurückliegenden Jugend, dann begibt man sich auf jene Zeitreise, die der Schöpfer dieses symbolträchtigen Gebrauchsgegenstandes, Dieter Mammel, für seine Nutzer vorgesehen hat. Denn dies Bett ist keine Skulptur, die unter formalästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten wäre, wie auch Dieter Mammels Bilder keine rein selbstreferentiellen Kunstwerke sind. Auch wenn sie ästhetisch-gestalterisch in jeder Hinsicht überzeugen, dann transzendieren sie doch das selbstgenügsame Spiel von Farbe, Form und Linie. Statt dessen dokumentieren sie eine Entdeckungsreise in das eigene Ich, in die Kindheit und Jugend des Künstlers, die uns nun in einer merkwürdigen Mischung aus Präsenz und Distanz vor Augen tritt. Zwar identifizieren wir problemlos die Motive, doch unterläuft ihr malerisches Verfließen die unhinterfragbare Gültigkeit, die beispielsweise Fotografien besäßen. Sie würden uns zu nichts anderem als zu voyeuristischen Beobachtern einer Lebensgeschichte machen, deren Einzigartigkeit Mammel gerade in Frage stellt. Denn allem Anschein nach vermeidet er die Exklusivität des Privaten, das strikt Biographische. Zwar ist es immer die Familie Mammel, die uns hier gegenübertritt, doch erlangen die familiären Rituale und Symbolhandlungen eine fast archetypische Gültigkeit. Entsprechend vertraut sind uns die dargestellten Situationen - die Familienfeier, das Posieren vor dem neuen Auto, der Freizeitspaß im Schnee. All das ist uns irgendwie bekannt, Zeichen dafür, dass Dieter Mammels Gemälde, Graphiken und Zeichnungen eine überindividuelle Gültigkeit besitzen. Nur auf diese Weise können sie schließlich zu Sprungbrettern für unsere eigene Phantasie, richtiger vielleicht, für unsere eigene Erinnerung werden, die in diesen Bildern sicher viele Anknüpfungspunkte finden wird. Man wird sich in der einen oder anderen Situation wiedererkennen, wird dabei aber zusätzlich lernen, dass persönliche Identität nicht etwas schlichtweg Gegebenes darstellt, sondern als Produkt eines Prozesses zu verstehen ist, der im Biotop der Familie abläuft.