PRESS pre 2003

1998 Tagesspiegel

Orte der Kindheit

Bilder von Dieter Mammel in der Galerie Johannes Zielke

VON KLAUS HAMMER

Der in Berlin lebende Dieter Mammel kommt aus dem süddeutschen Raum. Damals, im Wald und auf dem Lande, hat er abstrakte Bilder gemalt; jetzt, in der Großstadt, steigen die konkreten Erinnerungen aus dem abstrakten Raum, die Orte seiner Kindheit, das großväterliche Haus, der Schulweg, die Wanderungen durch Wald und Feld. Wie ein Seiltänzer bewegt sich der Künstler auf der unsichtbaren Grenzlinie zwischen innerer und äußerer Landschaft. Vermutlich ist Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer" eines seiner Lieblingsbilder.

Das deutliche Bewußtsein der Ungewißheiten dieser Grenzwanderung und der Labilität des Schwebezustandes zwischen den Welten findet Ausdruck in vielen seiner Ölbilder. Denn sie verweisen nicht auf existierende Landschaften, sondern vielmehr auf Zustände des Bewußtseins, die aus Erinnern, Erkennen und Ahnen gespeist werden. Mammel wählt eine Form für seine Arbeit, die seine Erfahrungen nicht auf lokalisierbare Ereignisse reduziert. Geometrische wie organische Grundformen dienen als Grundrisse für seine Landschaften und Gehöfte.

Das Bild ist immer Fenster, Bild im Bild. Die eine Bildlandschaft wird wie ein Schmuckstück in einen Ring gefaßt, die andere ersteht, als ob wir sie durch ein Guckloch erblicken. Die Arbeiten, zwischen Romantik und Surrealem angesiedelt, wirken wie von einem irrenden Scheinwerfer beleuchtete Inseln im Meer des Unbewußten, eher zufällig ins Licht tretende Zonen - Stationen, Orte, wo der Künstler sich selbst überraschend gegenübertritt, erschrickt, aber dann doch Mut faßt. Sie wollen Geschichten erzählen, Geschichten aus der Kindheit. Wie das Kind durch ein Schlüsselloch schaut, so erblickt es im Ausschnitt die Welt. Der Ausschnitt ist für das Kind stets Totalität, der ganze Kosmos. Oder man mag an einen Scheinwerferkegel denken, der nur ein Stück von Landschaft erfaßt, während das neutrale Umfeld endlos erscheint.

Wie die Verkleinerung der Blendöffnung die Schärfentiefe vergrößert, so gibt der Filmenthusiast Mammel eine Scharfeinstellung, verflicht die äußere Landschaft mit der inneren Landschaft der Erinnerung. Mitunter gibt es Anklänge an die See- oder Gebirgslandschaften Friedrichs, an die flammende Form van Goghs oder die die Augen täuschenden Darstellungen Magrittes. Das Bild "Der Nachbar" zeigt eine stehende anthropomorphe Skulptur, und wenn man es wendet, scheint die Figur zu schweben. "Montafon", die Talschaft der oberen Ill, scheint von weitem eine Gesteinsformation darzustellen. Wendet man es auf die eine Seite, erblickt man eine Seenlandschaft mit Horizont, wendet man es auf die andere, sieht man eine Gebirgslandschaft. Mammel liebt solche Irritationen und trompe-l'oeil-Effekte ebenso wie Rollenspiele. Zum Wesen der Kunst gehört, sagt er, daß man Zeit braucht: Man hat sie in den Bildern und muß sie auch mitbringen, um die Assoziationen überhaupt wahrnehmen zu können.

1998, TIP Berlin

Reststoff

Wenn man mit der Gabel im Soßenrest kratzt, wenn man dem Schaum zusieht, der im Spülbecken langsam zusammenfällt, wenn man in das Um und Um der Waschmaschinentrommel starrt oder in die Wellen, die hinter dem Bug des Schiffes zusammenschießen - dann lassen die Gedanken los, schweifen ab, und später kann man nicht mehr sagen, was diesen Moment ausgemacht hat. Von irgendwo unterhalb der Oberfläche des klaren Bewußtseins scheinen auch die blaugrauen Bilder von Dieter Mammel aufzusteigen. An zu Eis gefrorene Flüsse, an halbbeschlagenen Fensterscheiben erinnern seine Formen aus Wellen, Kreisen, Spiralen und Blasen. Manchmal finden sich in runden Einschlüssen Gegenstände abgebildet, die im diffusen Bildraum wie die Fliege im Bernstein treiben. Es sind Überbleibsel anderer Denkzustände in einem Übergang zum Traum. Aus einem größeren, der Navigation der Schiffe, Gedanken und Bilder gewidmeten Projekt des Berliner Künstlers zeigt die Galerie Zielke einen kleinen Ausschnitt.

1998, Stuttgarter Zeitung

Schau-Lust

Dieter Mammel bei Haderek

Ein Haus ist ein Haus. Doch wir wollen mehr sehen, die Umgebung des Hauses kennenlernen, sehen, ob es einsam daliegt, in einem Dorf oder einer Stadt steht, wie seine Bewohner leben. Doch Dieter Mammel verweigert in seinen Ölgemälden diese Auskunft. Er erzählt nur den Anfang der Geschichte, die sich in fliegenden, unregelmäßigen Farbflächen auflöst. Oder hart an eine undurchdringliche Farbfläche grenzt. Die Unmittelbarkeit des Kontrastes zwischen realistischer, abbildhafter Darstellung und abstrakter Malerei macht den Reiz von Mammels neuen Bildern aus. Die Trennlinie zweier Bildsysteme schafft eine Offenheit, die an Surrealismus erinnert. Die Lust des Schauens an der Überprüfbarkeit eigener Sinneswahrnehmungen. Nicht umsonst greift Mammel selbst auf die Philosophie des Spiegels zurück, der Materielles in Immaterielles transzendiert und unsere Seherfahrung erweitert. Mammel ist mit 33 Jahren der jüngste Künstler im Programm von Tilly Haderek. Der Wahlberliner hat sich ganz der Malerei verschrieben., Man spürt in seinen Arbeiten die Lust zu experimentieren, neue Einsichten zu gewinnen. In kleinformatigen Papierarbeiten tupft er die Farben vorsichtig aufs Blatt und verleiht ihnen zarte Materialität. Mammel ringt weder dem Material noch dem Betrachter etwas ab, sondern lädt vielmehr zur offenen Betrachtung und zu neuen Einsichten ein.

Karin Stellwaag, Stuttgarter Zeitung
13. Oktober 1998

1997, Der Tagesspiegel

"Mimikry" mimt Natur

Dieter Mammels Bilder in der Galerie Zielke

Der Titel der Ausstellung "Mirrorings", Spiegelungen, bezieht sich wohl zuallererst auf einen großen, aus zwei Blättern bestehenden Holzschnitt. Das an der Achse gespiegelte Paar, zu dem die türgroßen Druckstöcke in der Ausstellung gehören, zeigt ein schwebendes eiförmiges Gebilde, das mit einer Art von Muster überzogen worden ist. "Mimikry" heißt es (3700 Mark). Eigentlich bezeichnet "Mimikry" die Schutzanpassung wehrloser Tiere: Die Natur verlieh ihnen Warntrachten anderer Spezies, deswegen wirken sie scheinbar widerlich oder abschreckend. Auch Dieter Mammel betreibt Naturnachahmung qua "Mimikry". Diese aber ist der Abschied vom zentralperspektivisch konstruierten Raum in der europäischen Malerei. Es bleibt die Form. Die immer wieder in Mammels neueren Bildern, Zeichnungen und Gemälden (900 bis 4600 Mark) auftauchenden Formen, die rund und eiförmig sind und sich manchmal schlängeln, entstehen intuitiv und verwandeln sich unter dem Blick in natürliche Kreaturen und räumliche Gebilde. Damit aber hat die Spiegelung der Natur zwei Seiten: einmal ist sie der Ausfluß quasi natürlicher Strebungen und Regungen des Künstlers (Mammel kommt von der Kunstbewegung des Informel) - quasi, weil man nicht bestimmen kann, was am Menschen noch Natur ist - andererseits gleichen die dadurch entstandenen Elemente den organischen Formen aus Mikro- und Makrokosmos; Zellen zum Beispiel. Mammels "Mimikry"soll eine Täuschung der Augen bewirken, die das Künstlerische als scheinbare Widerspiegelung eines natürlichen Vorbilds wahrnehmen. Die Bilder könnte man somit auch als Tarnung beschreiben, denn diese Natur ist im Endeffekt Resultat einer Kultur und bemißt sich nach ästhetischen Maßstäben. Mammels Kunst kann also als Spur verstanden werden: Nicht als automatische Schreibweise mittels Pinsel und Farbe, die wiederholt, was die Kultur dem Unterbewußtsein des Menschen eingeschrieben hat, Spur bedeutet vielmehr: die zufälligen Einsprengsel im Formenvokabular der Bilder, der Lauf der Farbe unter der Schwerkraft, der Materialeffekt, wenn Öl auf Wasserfarbe trifft oder gar die Farbflecken, die "rorschachartigen Klappklecksen" gleichen - jenen Tintenklecksen, mit denen der Psychiater Hermann Rorschach das Seelenleben seiner Patienten ergründete. All das ist natürlichen Gesetzen unterworfen. Nur der rechte Winkel kommt in der Natur nicht vor. Er fehlt deshalb auch in Mammels Bildern. Aber dieser rechte Winkel umgrenzt das Bild nach außen: Per Rahmen. Und der bewirkt, daß Natur nur Schein ist.

RoB, Der Tagesspiegel
26. Juli 1997

1995, Stuttgarter Zeitung

Endlos-Schleifen

Während eines Arbeitsstipendiums im italienischen Olevano sind die neuen Bilder, Gouachen und Zeichnungen entstanden, die der 1965 in Reutlingen geborene Dieter Mammel in seiner zweiten Stuttgarter Einzelausstellung bei Tilly Haderek zeigt. Auf den vorgegebenen Grund des Ausgangsmaterials - ein transparent übermaltes Puzzle, alte Architekturpläne, Siebdrucke, Linolschnitte - reagieren Mammels hochsensible Arbeiten mit bewußten Zeichensetzungen. Zufallsformen, etwa durch Risse im Bildträger entstanden, die nur zu ahnen sind, aber in der Wahrnehmung sich dennoch festhaken, werden aus dem diffusen, vielgestaltigen Grund an die Oberfläche geholt. Auf dem Diptychon "Und alles scheint ein Fluß" antwortet eine sachlich gezackte, helle Kontur, die Mitte wie eine Grenzlinie umschreibend, auf das feine Gespinst der graublauen Malschicht. Die rechte helle Seite nimmt diese Vorgabe mit einem dominierenden, "künstlichen" runden Gegenstück auf und mit einer stark fragmentierten Form, die schon wieder der Vergänglichkeit, dem langsamen Verschwinden anheimzufallen scheint. Endlos-Schleifen, mal vage mit einem Pinselstrich gezogen, mal kräftig akzentuiert, schwimmen auf zart bekritzelten Papiergründen mit fleckigen Zufallsspuren. Schwarze Kringel, Kreise und Spiralen legen über Planskizzen düstere Geflechte der Unendlichkeit. Mit Collagen, die tiefere Schichten durchscheinen lassen, demonstriert Mammel, der in Berlin studiert hat und dort lebt, noch eindringlicher die Bedrängung durch das Schattenreich des Vorformulierten. Die Vergeblichkeit, mit Kunst etwas zu künden, tragen Mammels Arbeiten immer auf gehobenem ästhetischen Niveau vor.

Ruth Händler, Stuttgarter Zeitung