PRESS 2019

„Dieter Mammel: Iceland – The Cyan Cycle”


Eröffnung Galerie Gerken am 26.4.2019

 

Willkommen im Niemandsland. Im Irgendwo zwischen Komfortzone und Krisenabgrund. Also da, wo nur noch Bilder, Träume und Imaginationen den Weg weisen.
 
Dieses Gefühl hatte ich vorgestern beim Gang durch die Galerie, und es war ein gutes, anregendes Gefühl. Denn sobald ich merke, dass mir Kunst mit einer ganz bestimmten Absicht offeriert wird, wenn ich von irgendeiner – auch noch so guten – „Sache“ überzeugt werden soll, fühle ich mich nicht ganz ernst genommen. Ich mag es lieber unbestimmt, gehe gern auf „Expedition“ ins Unbekannte. Nicht wie auf Dieter Mammels gleichnamigen Bild mit Spektiv oder Feldstecher, aber ich bin ja auch kein Polarforscher. Nur die Situation – ein einsamer Mann am Bildrand, das rettende Schiff in weiter Ferne – diese leicht beunruhigende Situation gefällt mir. Und ich frage mich: Wie macht der Mammel das – trotz dieses statischen Bildaufbaus, mit diesen gähnend leeren Flächen eine solch vibrierende Spannung zu vermitteln? Weil er sich selbst als Subjekt, als individuellen Träumer, Erzähler ernst nimmt – und damit auch den Betrachter seiner Bilder. Nun fällt mir auf: Ich kann mich nicht erinnern, jemals in wenigen Sätzen über Kunst so oft „ich“ gesagt zu haben wie eben.
 
Warum wohl?

Weil Dieter Mammel gesellschaftliche Veränderungen, Mentalitätsbrüche und auch kulturelle Trends in Bilder fasst, die uns alle berühren. Denn er tastet sich an die Extreme heran, so vorsichtig, dass jeder mitgehen kann: konfrontiert mit einem Schiffsuntergang sehen wir immerhin noch einen Überlebenden – oder einen unbeteiligten Beobachter? Die Einsamkeit des Langstreckenläufers – die scheint dem von sozialen Medien übermäßig in Anspruch genommenen Zeitgenossen erstrebenswert – ist allerdings nur in der Wüste, der Eiswüste zu haben. Und selbst die „Nacht der langen Messer“ im Untergeschoss, das Mammel ganz bewusst „Keller“ nennt und zum „dark room“ erklärt – selbst diese aussichtslose Situation wird verkörpert von einer jungen Frau, die dann doch nur bewaffnet ist mit nichts weiter als einem blanken Messer.
 
Das alles mag auf eigener Lebensgeschichte beruhen, aus eigenen Erfahrungen herrühren, auch von Träumen und Alpträumen, kleinen Utopien und großen Ängsten. Das hat sich ja seit 68, da war Mammel fünf Jahre alt, geändert, damals waren es große Utopien und nahezu angstfreie Aufbruchstimmung. Aber anekdotisch malt dieser Künstler dennoch nicht. Dann wäre der Betrachter nicht mehr als ein Voyeur – und schnell gelangweilt. Hier aber wird Privates allgemeingültig, doch niemals durchschnittlich, gewöhnlich ins Bild gerückt.
 
Wie gelingt das?
 
Aus einer Distanz, die der Künstler, so paradox das klingt, sich mit körperlich direktem Einsatz beim Malen, im Akt des Malens schafft. So habe ich es im Ateliergespräch herausgehört – und übrigens mit Blick auf eine seltsame Schaukel auch bestätigt gefunden: „Bei Dieter Mammel hängt eine Schaukel im Atelier“, hatte mir eine Kollegin verraten. Nun stand ich davor: ein breiter schwarzer Ledergurt, mit schweren Ketten an der Decke befestigt. Aber nicht zum spielerischen Schaukeln gedacht, sondern um sich bäuchlings in diesen Gurt zu legen und aus dieser „schwebenden“ Haltung heraus die riesigen Leinwände zu bewältigen. Die stehen nämlich nicht an der Wand, sie sind auf dem Boden ausgebreitet. Darunter auch Landschaften, oft mehrere Meter lang oder hoch. Sie entwickeln sich aus einer kleinen Skizze zu immer größeren Bildflächen. Und Mammel klagt schon fast, dass er nicht nur körperlich an seine Grenzen stößt – sondern auch seine Atelierräume immer öfter zu eng werden.

Kein Wunder, wenn einer sich so wenig um Bildgrenzen schert. Die vorangegangene Mammel-Ausstellung in dieser Galerie hieß nicht umsonst „Nah und Fern“. Dieser Maler sprengt jede Planimetrie, er arbeitet undimensional - richtiger: multidimensional, seine Bilder schlagen nach allen realen und vor allem träumerisch surrealen Richtungen aus.
Die Frauenporträts zum Beispiel sind Kippfiguren, aus Gesichtern wächst ein schopfartig bewaldeter Berghang – oder war’s umgekehrt: das Gesicht ist aus der Landschaft entstanden? Auf jeden Fall sind die Dimensionen verschoben, ineinander verschränkt, so dass mehrere Schichten entstehen, wir mehrere Ebenen sehen, uns vorstellen können.Das beginnt mit „Kalte Füße“ – nicht der einige ironisch humorvolle Titel: Vor den kalten, den großen Füßen einer schlafenden Riesin steht ein kleiner ... nun, ich würde sagen: ein Wicht, ein strubbeliges Etwas. Ein Science-Fiction-Gulliver in Brobdingnag, dem literarischen Reich der Riesen. Und dann folgen richtige Männer – in winziger Größe. Einer rennt, will den Gipfel stürmen, den Berg bezwingen, der sich als Frau erweist, die den Winzling keines Blickes würdigt.

Das wäre eine, die eher psychologische Sichtweise. Aber alles ist möglich. Als Mammel 2015 eine Boot-Serie malte, da haben viele gesagt: aha, Flüchtlingsboote. Jetzt lässt er seine Figuren von den Eisfeldern verschwinden, zurück bleibt beim Bild „Eismeer“ nur die leere Landschaft, aber die zischt und brodelt, aus dunkeln Spalten wabert es gewaltig. Und viele werden sagen: aha, Klimaerwärmung.

Nun, die Frauengesichter sind geformt aus unterbrochenen Linien, wie Spuren am Meeresstrand. Da klingt, als feine Ahnung im Hintergrund, eine Warnung des Philosophen Michel Foucault an, wonach „der Mensch verschwinden könnte wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Die nächste Welle, die Brandung fegt ihn hinweg.
Das kann, darf und soll der Betrachter sich vorstellen, sich denken. Aber der Künstler hat das nie beabsichtigt, geschweige denn zielstrebig darauf hingearbeitet. Gemalt wird bei Mammel – sehr schön, wunderbar sympathisch – nicht aus einem Kalkül heraus: Gebilde und Zeichen entstehen aus dem Unbewussten – und aus dem Handgelenk. Vorstellung im Kopf, Geste des Körpers – das beides verbindet sich. Voraussetzung ist natürlich die solide Ausbildung, neben Sonderborg war das auch HAP Grieshaber, der Holzschneider. Daher dachte Mammel anfangs mehr in Linien und Strichen als in Farbe. Aber dann ließ er die Figuren lebendig werden, mit Tusche statt Ölfarbe, Nass-in-Nass fließen Tusche, Tinte oderPigment auf den Malgrund, die durchnässte Leinwand. Das ergibt Dynamik, etwa im „Kopfsprung“ – wieder in 2 Ebenen: Das Frauenporträt im Hintergrund, schemenhaft, aber dennoch wie aus einem fernen Felsen herausgemeißelt – und davor der Springer mit bloßer Brust und flatterndem Haar.
 
Aber sehen wir einmal ab von den Motiven, nach der Nah- nun wieder die Fernsicht: In jedem Bild wird immer auch der Entstehungsprozess, der Akt des Malens thematisiert, abertausende Gesten, Bewegungsabläufe kommen mit ins Bild – und verschmelzen zu einer Komposition. Die eben nicht geometrisch konstruiert ist. Denn verlaufende Farbe ist kaum zu kontrollieren. O-Ton Dieter Mammel: „Das Schönste sind Unfälle, dass etwas nicht gelingt, es plötzlich verläuft und seine Eigenständigkeit entwickelt. Und plötzlich wird das zu etwas ganz anderem als ich wollte.“Das ergibt dann wundersame Rauchzeichen, wolkig-wattige Gestalten. Wie zum Beispiel den Eisbären auf seiner abschmelzenden Scholle. Verwischt, unscharf, schemenhaft. Und recht doppeldeutig betitelt mit „Auflösung“. Denn während Gletscher sich auflösen, bedeutet „Auflösung“ in der nicht malerischen, der digitalen Welt ja etwas Positives, nämlich die gestochen scharfen, weil bis in den letzten Pixel berechneten Bilder. Malerei ist anders, ist subtil und subjektiv, weil nicht berechenbar, sondern unbeherrscht, körperlich eben.

Selten hält sich Mammel sich an die Gesetze konventioneller Perspektive, etwa bei den Schattenwürfen, die unabhängig vom jeweiligen Stand der Sonne ausgemalt, hingetuscht werden. Sie dürfen, sie sollen „ausmäandern, wattig“ werden. Und so ist der „Schatten der Vergangenheit“ hier nicht historisch, gar penibel chronologisch dargestellt, sondern traumwandlerisch, assoziativ: der Schatten des Körpers eines Überlebenden in der Antarktis – ist zugleich ein bedrohlicher Riss im Eis.
Dieses monochrome Universum entsteht aus Cyan – das hier wirklich zu einem Wasserblau, einem Eisblau wird, seine Materialität auf wundersame Weise verändert. Und blau sind auch die Menschen, als kristalline Ausblühungen auf der weißen Leinwand. Als Fabelwesen, die gedeutet werden wollen. Ebenso wie die Pinguine aus der – so der Titel – aus der „Eiszeit“. Ich sehe Krähenköpfe, Schildkrötenpanzer auf dem Rücken. Und frage mich, gegen welche Bedrohung sich die hier so heiter gemalten Tiere wappnen? Darauf gibt Mammel, gibt das Bild keine Antwort. Wer es sich an die Wand hängt, wird also lange etwas davon haben.
 
Das gilt übrigens auch für alle anderen Arbeiten. Denn Mammel, der Nass-in-Nass-Maler, hat mir im Atelier verraten: „Manchmal lasse ich die Bilder drei, vier Tage liegen und denke: ach, doch gut verlaufen.“Ein Reifeprozess also, nach der heftigen Malaktion erst einmal ablagern lassen – das hört sich nach einem guten Jahrgang an, nach feinem Wein. Nach Bildern, die man einfach nur genießen kann.
 
Jochen Stöckmann, 26.4.2019