PRESS 2022

November 2022, Frankfurter Neue Presse

Transit von der dramatischen Gegenwart in die ungewisse Zukunft

WESTEND - Ausstellung ist nichts für schwache Nerven -
Die Zeitenwende auf der Leinwand - Ein Kuss wird zur Alptraumwelt

Galerist Ernst Hübner in seiner Galerie vor dem schwarz-weißen Akt CUT von Dieter Mammel
Foto: Edda Rössler

Frankfurt - „Transit - Zwischen Welten“ lautet das Motto der Ausstellung des in Frankfurt und Berlin lebenden Dieter Mammel (1965) in der Westend Galerie Hübner + Hübner. Seit seiner One-Man-Show vor zwei Jahren, die den verheißungsvollen Titel „Du bist nicht allein“ trug, ist eine Umkehr eingetreten. Denn „Transit“ signalisiert Übergang, und ein Gelingen der Reise ist nicht Sicht.

Es gibt kein zurück

Seismographisch reagiert der Künstler auf gesellschaftliche Strömungen, die sich mit der vielzitierten Zeitenwende beschäftigen. Bot sich zu Beginn der Pandemie noch Empathie als Trostpflaster an, befinden sich jetzt Mammels Protagonisten im freien Fall. Ein Zurück gibt es nicht mehr, da sind alle Zelte abgebrochen, unsere Gegenwart ist dramatisch und die Zukunft ungewiss.

Hat sich die Stimmung im Oeuvre fundamental geändert, so ist eine Konstante erhalten. Dieter Mammel ist seinem unverkennbaren Stil treu geblieben, der sich zunächst im Schaffensprozess selbst manifestiert. Gemalt wird nur auf dem Boden, mit Tusche auf einer zuvor befeuchteten Leinwand. Mammel greift dann von allen vier Seiten in das Bildgeschehen ein. Diese dialogischen Prozesse sind fordernd, da er stets mit Zufällen konfrontiert wird. Das ist ungefähr so, als würde ein Balletttänzer plötzlich auf einer Eisfläche tanzen. Dass es dennoch zu klar umrissenen Figuren und einer eindeutigen Bildaussage kommt, ist neben der Erfahrung vor allem dem zeichnerischen Talent des Künstlers geschuldet.

Diese spontane Malweise, spätestens seit dem Action Painting im vergangenen Jahrhundert ein fester Bestandteil der Malerei, öffnet sich dem Unterbewussten und subjektivem Empfinden. Das hallt zwar noch durch die Bildwelten Mammels, der aber anders als etwa Jackson Pollock zugunsten der Figur und zugunsten eines gesellschaftlichen Statements kontrollierend eingreift.

Kunsthistoriker lieben Labels, auch ein Maler dieser Klasse wird da schnell eingefangen, und so feiert man seine Gemälde als romantisch. Der bei Hübner + Hübner gezeigte „Transit“ zitiert in zahlreichen Ansätzen ikonische Werke der klassischen Malerei, die beileibe nicht nur in das enge Korsett der Romantik passen.

Herausragend ist etwa der Akt einer liegenden, schwarzen Frau, die den Betrachter selbstbewusst anblickt. Großformatig verteilt Mammel ihren Körper über das gesamte Bild, so als würde ihre souveräne Präsenz den Rahmen sprengen. Ihr Körper taucht in der oberen Bildhälfte in einen schwarzen Hintergrund, die untere Hälfte, in herrlich schwungvollen Linien angedeutet, schwebt auf hellem Boden. Weder das Dunkle, noch das Helle halten diese Figur gefangen, die sich selbst definiert.

Akt einer Kollegin

Galerist Hübner verrät an dieser Stelle, dass der Künstler hier eine in Berlin lebende Kollegin darstellt, deren Vater aus Ghana stammt und die Mutter Schweizerin ist. Erfahrene Museumsbesucher wird gleich auffallen, dass es sich um die spiegelverkehrte Antwort auf die Darstellung einer Odaliske des klassizistischen Malers Jean-Auguste-Dominique Ingres handelt. War Ingres Figur dem Klischee der hellhäutigen Haremsdame verhaftet, das auch von Malern wie Henri Matisse zitiert wurde, so verwandelt sie sich bei Mammel in eine starke Frau mit Wurzeln in verschiedenen Kulturen. So schön und verführerisch ihr Körper ist, der gehört zuallererst ihr.

Auch das beliebte Motiv des Kusses, wie man es von Gustav Klimt oder vom Pop-Artisten Roy Lichtenstein kennt, greift Mammel auf, um es radikal auf den Kopf zu stellen. Sein Kuss gleicht einer Allegorie, in der jedoch nicht ein spontaner Liebestaumel oder pure Sinnesfreude im Mittelpunkt stehen. Dieser Kuss erinnert an die Alptraumwelten eines Edvard Munch und ist ein Schrei nach so vielem, nach Heimat, Empathie, Zuversicht und Geborgenheit. All diese Sehnsüchte scheinen in Dieter Mammels Bildwelten in weite Ferne gerückt.

Die Ausstellung „Transit“ ist nichts für schwache Nerven und genau aus diesem Grund sehenswert.

Edda Rössler

 

Dieter Mammel „Transit - Zwischen Welten“ bei Hübner + Hübner, Grüneburgweg 71, noch bis zum 19. November 2022

Quellenangabe: Frankfurter Neue Presse vom 02.11.2022, Seite 13